Die Stände
Während wir heute in der Vorstellung einer Rechtsgleichheit leben, lebte die Gesellschaft im frühen Mittelalter in der Vorstellung einer Rechtsverschiedenheit. Es gab also verschiedene Abstufungen zwischen den Menschen, abhängig davon welches Recht für den einzelnen galt, oder über welche Rechte der einzelne verfügte. Diese Abstufungen nennt man Stände.
Die allgemeine Lehrmeinung unterscheidet hier vier Stände, die in den so genannten "Legis" (Stammesrechten) festgelegt sind. Erwähnt werden hier die Edlen (nobiles), die Freien (liberi), die "Halbfreien" (liti) und die Unfreien (servi).
Für den für uns gewählten Zeitraum (also um 700) liegen uns aber noch keine niedergeschriebenen Stammesrechte vor. Die ersten Sachsengesetzte wurden erst mit der fränkischen Eroberung durch Karl dem Großen festgelegt. Als "erstes sächsisches Königsgesetz" die Capitularie de Partibus Saxoniae im Jahr 782, das "zweite sächsische Königsgesetz" die Capitularie Saxonum im Jahr 797 und das "Volksrecht der Sachsen" die Lex Saxonum im Jahr 802/03. Erst in der Lex Saxonum werden Stände erwähnt. So musste ein Täter für das Schlagen eines Adeligen 30 Schillinge bezahlen. Ein blauer Fleck eines Adeligen kostete schon 60 Schillinge und eine blutende Wunde 120 Schillinge. Die Tötung eines Liten muss mit 120 Schillingen gebüßt werden, die eines Servus jedoch nur mit 36 Schillingen. In § 65 ist sogar von einem Lito regis, also einem "Königshalbfreien" die Rede.
Diese Gesetze zeigen uns klar und deutlich, dass die Stände mit der fränkischen Herrschaft weder aufgehoben noch neu eingeführt wurden. Es gab sie also schon vorher.
Aus der Zeit vor Karl dem Großen gibt uns die Kirchengeschichte des britischen Geschichtsschreibers Beda venerabilis (* 672/673 bei Wearmouth in Northumbria; † 26. Mai 735 Kloster Jarrow) Auskunft über die altsächsischen Verhältnisse. Er hatte allerdings nicht das Ziel gehabt, den politischen Zustand in Sachsen zu beschreiben, vielmehr schrieb er einen Bericht über zwei englische Geistliche, die versucht haben heidnische Sachsen auf dem Festland zu bekehren. Hier heißt es :" Nicht einen König haben nämlich diese Altsachsen, sondern sehr viele über ihr Volk gesetzte Satrapen, die, wenn ein Krieg droht, gleichberechtigt das Los werfen; und wen das Los bezeichnet hat, dem folgen alle während der Zeit des Krieges als ihren Oberfeldherrn und gehorchen ihm. Ist der Krieg zu Ende, dann sind alle Satrapen wieder von gleicher Machtfülle". Hiermit machte Beda deutlich, dass es nicht einen Oberherren, sondern mehrere gleichberechtigte Herren gegeben hatte. Es hatte also niemand die Obergewalt über das ganze Land. Es herrschte demnach keine politische Einheit.
Edelinge
Kommen wir zurück auf die Stände und auf die allgemeine Lehrmeinung, dann können wir in den "Satrapen" vermutlich die Edlen, die Edelinge sehen. Vermutlich waren sie Gauvorsteher oder Gesetzessprecher und hatten ein sehr hohes Ansehen. Mit Sicherheit aber handelte es sich bei den Edelingen um eine zahlenmäßig geringe Schicht.
Frilinge
Bei den Freien können wir zunächst einmal unterscheiden zwischen den Freigeborenen (ingenuus) und den Freigelassenen (libertus). Auch der Kreis der Freien bildete nicht die große Masse der Bevölkerung, stellte aber den tragenden Stamm der sächsischen Gesellschaft dar. Sie hatten Grundbesitz zu eigen, hatten Stimmrecht und durften Waffen tragen.
Liten
Von der Bezeichnung der Liten als "Halbfreie" möchten wir Abstand nehmen. Warum diese Bezeichnung unglücklich ist, verdeutlicht eine Einteilung der Menschen im 18. Jahrhundert. Hier gab es Bauern, Bürger und Edelleute. Diese Stände befanden sich nicht nur im Zustand einer Über- und Unterordnung, sondern zugleich in einer selbstständigen Stellung nebeneinander. Und hier wäre es ja blödsinnig, die Bürger als "Halbbauern" oder "Halbedelleute" zu bezeichnen. Deswegen bleiben wir hier bei der Bezeichnung der litis als Liten als Stand der Personengruppe mit geringerer Freiheit und geringeren Rechten. Dabei ist zu bedenken, dass bei der Rechtsstellung eines Liten nicht von einer festen Einstufung zwischen Frei und Unfrei ausgegangen werden kann, sondern die komplette Bandbreite zwischen diesen beiden Rechtsstellungen abgedeckt wurde.
Allerdings war das Wort liti lateinischer Herkunft und in Sachsen vor Karl dem Großen nicht bekannt, sondern erst mit der fränkischen Rechtssprechung eingeführt.
Servi
Bei den Servi wäre es am bequemsten sie als Knechte oder gar als Sklaven zu bezeichnen. Aber das trifft es absolut nicht. Bei dem Wort "Sklave" werden die meisten sicher an den Pyramidenbau in Ägypten oder an "Kunta-Kinte" auf der Baumwollplantage von Lousianna erinnert. Wir können die Servi zwar Unfreie nennen, aber es waren keine geschundenen und ausgebeuteten Menschen, die sich in der Landwirtschaft betätigen mussten. Teilweise führten sie auch gehobene Dienste aus.
Sklaven ?
Möglicherweise gab es tatsächlich noch Sklaven, die aber in keiner Rechtssprechung erwähnt wurden, da sie nicht als Personen mit Rechten, sondern eher als Sache angesehen wurden.
Literatur- und Quellenangabe:
Häßler, Hans-Jürgen - Sachsen und Franken in Westfalen. Zur Komplexität der ethnischen Deutung und Abgrenzung zweier frühmittelalterlicher Stämme, Studien zur Sachsenforschung 12, 1999
Springer, Matthias - Die Sachsen, 2004